§ 35 Abs. 1 Nr. 4 2. HS BauGB versus Bestandsschutz aus Art. 14 Abs. 1 GG?

Mit dem Gesetz zur Stärkung der Innenentwicklung in den Städten und Gemeinden und weiteren Fortentwicklung des Städtebaurechts ist 2013 § 35 Abs. 1 Nr. 4 BauGB um einen – für landwirtschaftliche Betriebe entscheidenden – Halbsatz ergänzt worden. Danach ist die Errichtung, Änderung oder Erweiterung einer baulichen Anlage zur Tierhaltung, die dem Anwendungsbereich des § 35 Abs. 1 Nr. 1 BauGB nicht unterfällt und die – einschließlich von Kumulationen – einer Pflicht zur Durchführung einer standortbezogenen oder allgemeinen Vorprüfung oder einer uneingeschränkten UVP nach dem UVPG unterliegt, von der Privilegierung ausgeschlossen. Die Änderung sollte dem Entwicklungstrend einer restriktiven Zulassungspraxis von immer größeren Tierhaltungsanlagen in Veredelungsregionen entgegenkommen und eine Schranke für die Zulassung neuer Tierhaltungsanlagen normieren. Anlagen sollten künftig nur nach Aufstellung eines entsprechenden Bebauungsplans errichtet werden können. Die Neuregelung hat zu erheblichen Problemen in der Praxis geführt. Erste vorhandene Rechtsprechung ist auch dann äußerst restriktiv, wenn es für Bestandsanlagen um Änderungen geht, die mit Blick auf die Schwellenregelung des UVPG ohne Einfluss sind. Dies etwa dann, wenn in bestehenden Anlagen Terrassen angebaut oder Betriebsleiterwohnungen errichtet werden sollen.

Ein ausführlicher Beitrag in der Fachzeitschrift Agrar- und Umweltrecht (Kauch/Ibrom, AUR 2018, 402 ff.) stellt die Voraussetzungen und Rechtsfolgen der neuen Regelung dar und beleuchtet die gesetzliche Änderung kritisch mit Blick auf den sich aus dem Eigentumsgrundrecht des Art. 14 Abs. 1 GG ergebenden Bestandsschutz von baulichen Altanlagen. Da die gesetzliche Änderung auch Bestandsanlagen erfasst, ergeben sich im Hinblick auf die Grundrechtsdogmatik zu Art. 14 Abs. 1 GG und dem daraus ableitbaren Bestandsschutz von baulichen Anlagen – der ausdrücklich in § 35 BauGB als Konkretisierung des Eigentumsgrundrecht normiert ist – Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der neugefassten Einschränkung. Denn bestimmte Baumaßnahmen, etwa der Bau eines Altenteilers, eines Landarbeiterhauses oder einer weiteren Betriebsleiterwohnung, aber auch Garagen und Lagergebäude, sind für sich genommen nicht UVP-pflichtig. Die UVP-Pflicht wird nach dem Schwellenprinzip für Baumaßnahmen (Stallbaumaßnahmen) ausgelöst, die bislang nicht UVP-pflichtig gewesen sind, d.h. unterhalb des Größen- und Leistungswerte lagen, für solche, die auch bisher UVP- pflichtig gewesen sind, bei denen möglicherweise einer Kumulation vorliegt oder die durch das Hinzunehmen weiterer Tierplätze ohnehin UVP-pflichtig sind.

Bei der Auslegung des § 35 Abs. 1 Nr. 4 2. HS BauGB stellt sich vorab die Frage, ob eine baulichen Anlage zur Tierhaltung auch dann vorliegt, wenn die geplante bauliche Maßnahme den eigentlichen Tierhaltungsbereich gar nicht berührt. In der Praxis ergeben sich insoweit Probleme, wenn eine Betriebsleiterwohnung an- oder ausgebaut werden soll, wenn Erweiterungsmaßnahmen im Wohnbereich geplant werden oder wenn einfach nur ein Pool errichtet oder eine Terrasse mit Überdachung an ein bestehendes Wohngebäude angebaut werden soll. In einer ersten Entscheidung führt das VG Düsseldorf – 11 K 7420/15 – aus, es handele sich bei der Errichtung eines Wintergartens an sich nicht um die Errichtung, Änderung oder Erweiterung einer genehmigten Tierhaltungsanlage. Allerdings gelte das Betriebsleiterwohnhaus, an das der Wintergarten angebaut werden solle, als dienender und untrennbarer Betriebsteil der Tierhaltungsanlage. Dieses werde als solcher von § 35 Abs. 1 Nr. 4 BauGB erfasst. Gleiches ist auch dann anzunehmen, wenn der Neubau eines Betriebsleiterwohnhauses in Rede steht und die Kälbermastanlage zuvor nach § 35 Abs. 1 N. 4 BauGB errichtet worden ist.

Art. 14 Abs. 1 GG hat – anders als in anderen Bereichen des öffentlichen Rechts – eigens im Baurecht eine besondere Bedeutung. Dahinter verbirgt sich der besondere Schutz einmal errichteter baulicher Anlagen und ihrer Nutzungen als verfassungsrechtlich verankerter Leitgedanke des Eigentumsschutzes. Das insbesondere von der Rechtsprechung entwickelte Rechtsinstitut des Bestandsschutzes besagt, dass dem Eigentümer das durch die (rechtmäßige) Eigentumsausübung Geschaffene gesichert wird, indem einem rechtmäßig begründeten Bestand und seiner Nutzung – innerhalb gewisser Grenzen – Durchsetzungskraft auch gegenüber neu entgegenstehenden gesetzlichen Anforderungen zukommt.
Ausweislich der neueren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts wird unter dem Begriff des sog. erweiterten Bestandsschutzes – als qualifizierter aktiver Bestandsschutz – das Gebäude im Umfang seines vorhandenen baulichen Bestandes und in seiner Funktion geschützt. Dieser überwirkende Bestandsschutz verlangt das Bestehen eines untrennbaren Funktionszusammenhangs zwischen dem vorhandenen Bestand und dem seinem Schutz dienenden Maßnahmen. Dabei lässt die Rechtsprechung ein angemessenes Verhältnis der baulichen Erweiterung zum vorhandenen Gebäude und Betrieb ausreichen.
An dieser früheren Rechtsprechung hat das Bundesverwaltungsgericht nicht festgehalten, soweit der Gesetzgeber der Regelungsstruktur des Art. 14 Abs. 1 und Abs. 2 GG entsprechend den Bestandsschutz im Bereich des § 35 Abs. 1 bis 5 BauGB ausgeprägt hat. Die gesamte Norm des § 35 BauGB sowie die dazu ergangene Rechtsprechung stellt dabei eine Ausprägung des verfassungsrechtlich garantierten Bestandsschutzes dar. Es stellt sich zunächst die Frage, ob der Verzicht auf einen Rückgriff auf Aspekte des überwirkenden Bestandsschutzes auch dann noch Bestand haben kann, wenn der Gesetzgeber die Norm des § 35 Abs. 1 Nr. 4 2. HS BauGB dergestalt ändert, dass die Errichtung, Änderung oder Erweiterung der Tierhaltungsanlage so weitgehend von der Privilegierung ausgeschlossen ist.

Ehe der Bestandsschutz unmittelbar aus Art. 14 GG abgeleitet werden kann, wird in dem zu Grunde liegenden Beitrag geprüft, ob nicht auch für bestandsgeschützte Tierhaltungsanlagen einzelne bauliche Maßnahmen im Wege der Auslegung oder der verfassungskonformen Auslegung sichergestellt werden können.
In der Praxis sind nach der oben erfolgten Darstellung vor allem folgende Fallgruppen ins Auge zu fassen:

• bei der Errichtung von baulichen Angaben (Neubau):
o Neubauten mit UVP-Relevanz
o Neubauten ohne UVP-Relevanz

• bei der Änderung baulicher Anlagen:
o Reparatur/Instandsetzung
o Modernisierung/technische Anpassung
o Änderung von Nebengebäuden mit und ohne UVP-Relevanz

• bei der Erweiterung baulicher Anlagen:
o Tierhaltungsanlagen
o Nebenanlagen

Die meisten Fragestellungen der Praxis lassen sich durch Auslegung oder verfassungskonforme Auslegung, letzterer auch unter Heranziehung der allgemeinen Regeln des Bestandsschutzes, lösen. Änderung und Erweiterung der baulichen Anlagen einer gewerblichen Tierhaltungsanlage sind möglich. Baumaßnahmen an nicht UVP-relevanten Vorhaben bleiben bei einer engen Auslegung des Begriffs „Tierhaltung“ – dahingehend, dass Anlagebestandteile, die die Tierhaltung nicht unmittelbar betreffen, nicht erfasst sein sollen – privilegiert zulässig. Für die Neubauten, die wegen einer behördlichen Anordnung oder einer gesetzlichen Anforderung erforderlich werden, bei denen die Errichtung UVP-Relevanz hat, besteht ein Genehmigungsanspruch, da der Begriff der baulichen Anlage zur Tierhaltung unter Berücksichtigung des Bestandschutzes dahingehend auszulegen ist, dass solche Maßnahmen unter die Privilegierung fallen. Modernisierungsmaßnahmen und überobligatorische Anpassungen, die nicht auf einer entsprechenden behördlichen Anordnung bzw. gesetzlichen Anforderung beruhen, sind auch nach früherem Recht nicht möglich gewesen und dagegen nicht von der Privilegierung umfasst. Sie müssten gesetzlich geregelt werden. Mehrfache Bau- und Betriebserweiterungen sind bei verfassungskonformer Auslegung erfasst.

Eine Klarstellung durch den Gesetzgeber ist nur für den Begriff „Erweiterung“ und den Begriff „die dem Außenbereich des § 35 Abs. 1 Nr. 1 BauGB nicht unterfällt“ erforderlich. Der Begriff „Erweiterung“ führt in seiner bisherigen Auslegung über das Kriterium der Angemessenheit zu widersprüchlichen Ergebnissen, da unangemessene Erweiterungen von der Privilegierung erfasst bleiben. Die Erweiterung baulicher Anlagen ist durch die Regelung des § 35 Abs. 4 Nr. 6 BauGB beschränkt auf die einmalige Erweiterung. Mehrmalige Erweiterungen sind – im Gegensatz zur früheren Rechtslage – nicht möglich. Da durch die Regelung des § 35 Abs. 4 Nr. 6 BauGB nicht alle Aspekte des erweiternden Bestandsschutzes abgebildet werden, müssen in diesen Fällen grundsätzlich solche Änderungen oder Erweiterungen möglich sein, die im Funktionszusammenhang mit der gewerblichen Tierhaltungsanlage stehen. Jedenfalls für mehrfache Erweiterungen eines landwirtschaftlichen Betriebes und seiner Nebengebäude, ist der Rückgriff auf den erweiternden Bestandsschutzes zulässig. Nur so kann eine effiziente Weiternutzung der bestehenden Betriebe, deren Weiter- und Fortentwicklung durch Erweiterung gewährleistet werden.
Auch der Begriff „die dem Anwendungsbereich des § 35 Abs. 1 Nr. 1 BauGB nicht unterfällt“ führt wegen seiner negativen Formulierung zu Konflikten, da eine Anlehnung an den positiven Tatbestand des § 35 Abs. 1 Nr. 1 BauGB ebenfalls zu widersprüchlichen Ergebnissen führt. Insoweit lässt sich für die Auslegung des Begriffs „die dem Anwendungsbereich des § 35 Abs. 1 Nr. 1 BauGB nicht unterfällt“ nur eingeschränkt auf die zu § 35 Abs. 1 Nr. 1 BauGB entwickelten Kriterien zurückgreifen. Gerade bei in § 35 Abs. 1 Nr. 1 BauGB positiv entwickelten Ausnahmeregelungen führt dies im Ergebnis in einem negativ formulierten Kontext dazu, dass diese unter dessen negative Voraussetzung nicht fallen und damit den Ausnahmetatbestand nicht begründen.

Aufgabe der Gerichte wird es künftig sein, den Tatbestand des § 35 Abs. 1 Nr. 4 2. HS BauGB unter Aspekten des Bestandsschutzes auszulegen. Der Gesetzgeber wird gehalten sein, zu prüfen, ob er überobligatorische Maßnahmen/technische Anpassungen im Außenbereich zu lassen will. Im Übrigen besteht Bedarf, die Negativformulierungen mit Blick auf die ansonsten positiv verfassten Ausnahmetatbestände des § 35 Abs. 1 Nr. 1 BauGB anzupassen.
Der gesamte Aufsatz erscheint im November Heft der AUR 2018 (Kauch/Ibrom, AUR 2018, 402 ff.). Des Weiteren können Sie den Aufsatz unter folgendem Link in der Gesamtfassung lesen.